Mittwoch, 19. Mai 2021

Das Modell

„Bitte, komm herein.“
Sie geht durch den Türrahmen, zwäng sich an ihm vorbei und sieht in das schmale Treppenhaus. Schon auf dem ersten Blick wird klar, dass hier sehr viel Platz verschwendet wurde, denn die Wände reichen teilweise fünf Meter hoch. Absolut irrsinnig. Im Winter wird man das Treppenhaus, welches direkt zur Wohnung gehört, niemals aufheizen können.
Sie geht die ersten paar Stufen hoch, zieht sich die Schuhe aus und stell sie neben den seinen.
Links führen weiter Stufen in den eigentlichen Wohnbereich hinauf. An den Wänden hängen auf Augenhöhe verschiedene Dekorationen: Schmetterlinge, Makramee, Uhren, Schlüssel…. Alles Mögliche.
„Ich würde ja lieber Gemälde und Bilder aufhängen. Hier sind so ziemlich die einzigen Wände, an denen mehr und größere Platz hätten, aber der richtige Abstand wäre nicht gegeben…. Und diese endlos hohen Wände…. Da hätte man oben locker noch mehr Platz schaffen können. 
„Wie auch immer, ich hätte hier gerne noch mehr Schmetterlinge und Uhren. Was gibt es verlockenderes als eingerahmte Schmetterlinge und tickende Uhren?“
Die Treppe verläuft links weiter. Sie geht rauf und als ihr Blick über die oberste Stufe reicht, sieht sie einen gezeichneten Akt. Eine Person mit Penis sitzt breitbeinig und hält den Kopf in den Händen gestützt. Die Person selbst ist in grau gehalten, mit Kohle gezeichnet, rotes Haar. Der Hintergrund besteht aus einer dunkelblauen Ölfarbe, welche an den Rändern heller wird. Am dunkelsten, fast schon Schwarz, ist es um das strahlende Fenster, dessen Verstrebungen ein Kreuz abzeichnen. Von rechts berührt eine körperlose Hand die Schulter der Person.
Eine Geste des Mitgefühls.
„Das nenne ich mal eine Ansage“, sagt sie.
„Ach der? Hat da irgendwie gut hingepasst. Wer ein Problem damit hat, kann auch gleich wieder umdrehen.“
Sie steht davor, betrachtet jedes Detail und fragt sich: Was er damit wohl sagen möchte? Es sieht schon interessant aus, aber so ziemlich als erstes gleich einen nackten Typen sehen, wenn man den Wohnbereich betritt…. das schreit gerade zu nach Coming-Out.
Seine Gedanken, während er neben ihr steht und das Bild betrachtet: Brot wäre jetzt nett.
„Bist du das?“, fragt sie.
„Nee, ich habe keine roten Haare.“
„Ich glaube, das würde unter künstlerische Freiheit fallen.“
„Ja, aber nein.
„Links ist die Küche, rechts das Schlafzimmer.
„Beziehungsweise ist links das Esszimmer und rechts die Bibliothek.
„Außerdem befindet sich links auch noch das Wohnzimmer und rechts das Arbeitszimmer….“
„Wie viele Räume hast du?“
„Ohne dem Bad sind es zwei.“
„Oh…. du bringst ganz schön viele Zimmer in zwei Räume unter.“
„Ich hasse Multifunktionsräume.“
„Verständlich.“
Sie geht nach links. Kaum hat sie den Raum betreten, versteht sie, warum er nur im Treppenhaus größere Bilder aufhängen könnte. Der Raum besteht zur Hälfte aus Dachschrägen und an den wenigen geraden und hohen Wänden stehen Regale. Gleich rechts vom Eingang befindet sich die Küche, die seit mindestens 30 Jahren nicht mehr erneuert wurde. In der Mitte des Raumes steht größerer Tisch; das Esszimmer. Links ist eine große Nische, in der das Wohnzimmer Platzgefunden hat: Regale mit Videospiele, Couch und einem Couchtisch, der direkt beim Esstisch steht.
Direkt gegenüber der Türe ist der Balkon, vor dem ebenfalls ein nischenartiges Bereich ist, und dort hat an der rechten Wand eine Malerei platzgefunden. Von der Tür aus, sieht man das Bild nur stark verzerrt. Sie stellt sich vor das Bild und betrachtet es.
Es ist eine Leinwandmalerei und zeigt eine nackte Person ohne erkennbare Geschlechtsmerkmale. Sie sitzt in einem kahlen Wald, die Bein angezogen und die Arme herumgeschlungen, den Kopf zwischen den Knien versteckend. Die Figur wurde wieder in grau gezeichnet. Alles andere hat eine hellblaue Farbe bekommen. Es wirkt kalt, eisig. Nur um die Figur herum ist noch eine andere Farbe: Magenta. Es sind dünne Striche, die ein Rechteck formen, in dem die Figur sitzt. Ein warmer Käfig in einer trostlosen Umgebung.
Das ist schon wieder er, denkt sie sich und sagt: „Das bist aber du.“
„Nein, das ist nur eine Person. Eine gezeichnete Person.“
„Komm schon. Sag einfach, dass du das bist. Ein Abbild von dir. Man darf schon ein bisschen selbstverliebt sein.“
„Es ist ein Mensch. Mehr nicht.“
Die Augen verdrehend, will sie den Raum verlassen und in den anderen gehen, doch sieht die nächste Leinwand. Sie hängt ein bisschen über der Couch.
Dasselbe Spiel: ein nackter Mensch, der eindeutig er ist, grau gezeichnet, dieses Mal jedoch auch leicht lila koloriert. Er liegt in einem nicht definierten Raum und hat eine schützende Haltung eingenommen: ein Arm umschlingt den Kopf und die Knie sind zum Oberkörper gezogen.
Die Person wird bedrohend von farbigen Schemen umzingelt. Es ist eine ganze Gruppe: dunkle Umrisse und farbiger Kern. Die Schemen haben die Farben des Regenbogens, nur lila fehlt.
Ist das eine Anspielung an die Pride-Flagge? „Das sieht irgendwie queer, aber auch bedrohlich aus…. warum liegst du da so auf dem Boden?“
„Das hat nichts mit mir zu tun. Das ist nur Fleisch.“
„Wie du meinst.“
Sie geht in den anderen Raum. Rechts in einer Nische steht das Bett unter einer Dachschräge und direkt neben dem Bett sind mehrere vollgestopfte Bücherregale; das Schlafzimmer und die Bibliothek. Geradeaus steht ein älterer, grün gepolsterter Lesesessel vor einem Bodenfenster. Links davon führt noch eine Nische nach hinten, die quasi nur einer gerade Wand, Dachschräge und einer Rückwand besteht. Dort steht noch an der Rückwand ein Regal mit verschiedenen Kunstbüchern und Kunstutensilien und an der geraden Wand ein kleiner Tisch samt Sessel: das Arbeitszimmer.
An dem Lesesessel lehnt eine weitere Leinwand. Sie geht hin und sagt sofort: „Jetzt kannst du es nicht mehr abstreiten! Der ist ein Abbild von dir! Das ist eindeutig dein Gesicht!“
Sie starrt eine fast lebensgroße Figur an, die fast realistisch gezeichnet wurde. Die Figur blickt, nackt wie sie ist, rechts aus dem Bild raus, hält eine Hand über de Kopf und die andere unter das Kinn. Der Kopf wird von einem magentafarbenen Quader eingegrenzt, und durch die Hände läuft jeweils ein Rechteck, die Teile des Quadrates bilden. 
Der Quader und die Rechtecke verwirren sie irgendwie: einmal wirkt es so, als würde das Quader nach außen links hinauf verlaufen, im nächstens Moment verläuft es in das Bild hinein rechts runter.
„Das sind die Tänzer“, sagt er ihr.
„Das ist nur einer. Du selbst.“
„Irgendein Mensch.“
Sie wirbelt herum, hat so langsam keine Lust mehr auf das Spielchen und blickt direkt einen detailliert gezeichneten Penis an, der zu einer ebenso detailliert gezeichneten Person gehört, die sich eine Hand an den Kopf hält, während aus der anderen Seite des Kopfes die Regenbogenfarben schießen.
Sie starrt es an, dann ihn, wieder es.
„Okay, könntest du jetzt bitte einfach zugeben, dass du dich immer selbst zeichnest, und dass du queer bist?“
„Tut mir leid, aber das bin nicht ich. Es ist nu das Wesen eines Menschen. Zufällig sieht mir das ähnlich und zufällig hat es einen Penis. Es kann aber jede Person sein.“
„Weiß du was? Wenn du zu mir nicht ehrlich sein kannst, leck mich doch einfach!“
Sie stürmt raus und ist schon die ersten Stufen runter, als sie hört, wie die Haustüre aufgeht und jemand ruft: „Ich habe die Kreiden bekommen! Jetzt kannst du wieder für mich Modell sitzen.“
Sie dreht sich um und sieht zu ihm hinauf.
„Das ist mein Freund“, sagt er lächelnd.



- Das Modell, 01.05.2021



juhk. d

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