Samstag, 29. Mai 2021

Sommergefühl

Der Mann sitzt in seinem Arbeitszimmer und blickt aus dem Fenster. Es ist kein besonders großes Zimmer und sein Schreibtisch besteht auch nicht aus einem wertvollen, exotischen Holz. Es ist ein einfacher Eichentisch, dunkelbraun lackiert.
Er wollte nie das große Geld, nie mit seinem Reichtum protzen, musste nie sich selbst und anderen beweisen, dass er es im Leben geschafft hat. Aber…. Hat er das wirklich? Immer wieder fragt er sich: ist dies ein gutes Leben? Ein eigenes Haus mit Garten. Eine sichere Zukunft. Eine glückliche und gesunde Familie. Ja, es ist ein gutes Leben. Es sollte ein sorgenfreies Leben sein.
Auf dem Tisch liegt ein Blatt Papier, ein passender Umschlag und ein Kugelschreiber. Er weiß noch, wie er diesen von seiner Frau zum zehnten Hochzeitstag bekommen hat. Für ihn war es das perfekte Geschenk. Ein einfacher Kugelschreiber ohne jeglichen teuren Schnickschnack, aber doch für die Ewigkeit gedacht. Selbst in diesen irrsinnig technologisierten Zeiten schreibt er alles zuerst mit der Hand und überträgt es dann auf den Computer.
Er nimmt den Kugelschreiber in die Hand, setzt ihn auf das Papier auf und legt ihn wieder weg. Hundert Gedanken fliegen ihm durch den Kopf, aber kein klarer Satz. Wie soll er anfangen? Ausgerechnet jetzt hat er eine Schreibblockade. Buch um Buch schrieb er ohne jegliche Probleme und jetzt, wo es mehr denn je um das Leben geht, bringt er kein einziges Wort zu Papier.
Vielleicht einfach eine Begrüßung, ganz klassisch. Oder lieber doch gleich eine Entschuldigung?
Und was dann? Was will er schreiben? Was kann er überhaupt schreiben, um sich selbst verständlich zu machen? Es ist alles in seinem Kopf und doch scheint es keine Worte dafür zu geben. Keine passenden Worte, die auch nur ansatzweise beschreiben könnten, was in ihm vor sich geht. Wie sieht ein Schwarzes Loch hinter der Dunkelheit aus?
Er könnte auch versuchen, ihnen gleich Trost zu spenden. Es wäre zwar ein fruchtloser Versuch, aber was kann es ihm schon schaden?
Und wenn er sagt, dass es seine freie Entscheidung war, und dass er das so wollte? Würde auch nichts nutzen. Es gibt immer jemanden, der es auf einen Gehirnfehler schieben will. Oder auf Depression, das Wunderwerk des 20. und 21. Jahrhunderts.
Bin ich depressiv? Vielleicht ein bisschen, aber daran liegt es nicht. Da ist noch etwas Anderes….
Er greift mit der linken Hand runter zur Schublade, zieht sie auf und nimmt den Revolver raus. Er liegt schwer in seiner Hand, aber doch leichter als das Leben. Der Revolver verkörpert das Endgültige. Nur ein Druck und es ist vorbei. Er ist die perfekte Antithesis zum Leben. Man kommt als Baby aus der Wärme des Mutterschoßes raus. Raus aus der Stille. Plötzlich dringt eine ganze Welt voll Wahn, Kälte und Lärm auf einen ein.
Das Metall des Revolvers, die Kugel…. Beide sind anfangs kalt und auch still. Dann sind sie heiß und unendlich laut, aber das macht nichts, da dieser letzte Knall den Lärm der Welt zum Schweigen bringt.
Ein Abschiedsbrief. Die letzten Worte eines Toten. Was erwarten sich die Leute davon? Was könnte es ihnen bringen? Einen Grund. Immerzu wollen, verlangen sie nach einem Grund. Und gäbe es einen Grund für alles, so wäre auch das noch nicht genug.
Er blickt wieder aus dem Fenster raus.
Es ist Mitte Frühling, aber wenn man es nicht wüsste, könnte heute ebenso gut schon Sommer sein. Die Sonne steht hoch oben, raubt dem Himmel die Farbe, lässt ein paar dunkelgraue Wolken erleuchten. Gewitterwolken.
Heute wird sich noch etwas zusammenbrauen und wie könnte es passender sein? Zwei Wochen lang gab es nur Sonnenschein, einen wolkenlosen Himmel, und ausgerechnet heute wird es noch regnen. Fast wie in einem Roman. Es wird Regen geben, dessen ist er sich sicher. Bitterer Regen.
Kinderlachen dringt zu ihm herauf und er blickt zum Feldweg, der an seinem Garten vorbeiführt. Es sind zwei Jungen, kommen gerade von der Schule heim. Einer blickt zu dem Mann rauf und winkt. Er erwidert den Grüß mit der rechten Hand.
Geht schnell heim. Ihr wollt nicht hier sein, wenn das Gewitter losbricht.
Die ersten Regentropfen fallen.
Er erinnert sich, wie er früher im Sommer öfters rausging, wenn es regnete. Oben der kühle Regen, unten die warme Erde und er zwischen ihnen.

Er weiß nun, was er in den Brief schreiben will.

Es ist dieses Sommergefühl. Kennst du es?
Die Welt scheint kräftigere Farben zu haben und alles ist von einem goldenen Schimmer umhüllt.
Die Sonne beleuchtet alles im richtigen Winkel und es kommt dir so vor, als wäre der Sonnenuntergang endlos. Es gibt keine Zeit.
Du riechst den Geruch von Regen auf trockener Erde, stehst selbst draußen und lässt dich durchnässen.
Alles was einen perfekten Sommer ausmacht, ein perfektes Leben, ist in einem Moment gepackt. Das ist dieses Sommergefühl. Es ist ein schönes Gefühl, aber es hat auch etwas Apokalyptisches an sich.
Du willst diesen Moment festhalten, ihn nie wieder missen…. Aber dir ist klar, dass er gleich vorbei sein wird und das ist in Ordnung, denn er kann nicht ewig sein. Er wird wiederkommen.
Aber dann kommt der Moment doch nicht mehr, das Sommergefühl bleibt fern.
Und dann weißt du es einfach:
jetzt bist du bereit.



- 12. März 2018



juhk. d

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